CU4: Kyrills Memorandum an Poseidonios

Inhalt: Kyrill gibt seinem Diakon Poseidonios, den er nach Rom schickt, um Coelestin dort ein gegen Nestorius gerichtetes Dossier zu übergeben, ein Schreiben mit auf den Weg, in welchem er die Lehre seines Gegners in eher tendenziöser Form skizziert und diesen außerdem anhand eines Beispiels als Ränkeschmied darstellt.

Edition: Collectio U, ACO I,1,7 S. 171,6–172,8; ältere Edd.: Baluze (1683), Sp. 377–380; Mansi, Bd. 4 Sp. 547-550

Verzeichnisnummern: CPG 5311

Verfasser: Kyrill von Alexandria

Datierung: Mitte 430

Lat. Übersetzungen:  –

Literatur: Price/Graumann (2020), S. 132f.

Memorandum des überaus heiligen Bischofs Kyrill, welches an Poseidonios gegangen ist, als er von
ihm wegen der Angelegenheiten, die Nestorius betreffen, nach Rom entsandt wurde:

Der Glaube des Nestorius oder vielmehr die Irrlehre hat folgenden Inhalt: Er sagt,
dass der Gott-Logos, da er im Voraus erkannt habe, dass jener, der von der heiligen
Jungfrau geboren wird, heilig und gewaltig sein würde, ihn im Hinblick darauf ausge­
wählt
und es veranlasst habe, dass er ohne Mann von der Jungfrau geboren würde, und
es ihm gewährte, mit seinen Namen angesprochen zu werden,
so dass er ‚Sohn‘, ‚Herr‘
und ‚Christus‘ genannt wird, und er es eingerichtet habe, dass er für uns gestorben sei,
und ihn wieder auferweckte, so dass man, auch wenn es heißt, dass der einziggeborene
Logos Gottes, weil er immer wie mit einem heiligen Menschen mit dem aus der Jung­
frau zusammen war, Mensch geworden sei, aus diesem Grund sagt, dass er Mensch
geworden ist. Und wie er mit den Propheten zusammen war, so, sagt er, auch mit die­
sem auf Grundlage einer stärkeren Verbindung. Daher vermeidet er es um jeden Preis,
den Begriff ‚Einung‘ zu verwenden, sondern führt eine Verbindung an, was wie [etwas]
von außen [Kommendes] ist und wie wenn er zu Jesus sagt:„Wie ich mit Mose im
Verbund war, so werde ich es auch mit dir sein.“
Indem er aber die Gottlosigkeit ver­
birgt, sagt er, dass er vom Mutterleib an mit ihm zusammen war. Deswegen sagt er
auch nicht, dass er wahrhafter Gott ist, sondern wie durch das Wohlwollen Gottes so
gerufen wird. Und wenn er ‚Herr‘ genannt wird, will er wiederum, dass er demnach
Herr ist in dem Sinn,
dass der Gott-Logos es ihm gewährt habe, so genannt zu wer­
den.
Und er sagt, dass, wenn wir sagen, der Sohn Gottes ist für uns gestorben und auf­
erstanden, der Mensch gestorben und der Mensch auferstanden sei und dies in keiner
Weise den Gott-Logos betreffe.

Auch wir bekennen, dass der Logos Gottes unsterblich und Leben ist, doch wir
glauben, dass er Fleisch geworden ist, also, indem er das Fleisch zusammen mit einer
vernunftbegabten Seele mit sich geeint hat,
im Fleisch den Schriften nach gelitten hat, 
und dass man, weil sein Leib gelitten hat, sagt, er selbst habe gelitten, obwohl er der
Natur nach leidensunfähig ist. Und weil sein Leib auferstanden ist (schließlich hat
sein Fleisch keine Verderbnis gesehen),
sagen wir, dass er selbst für uns auferstanden
ist.
Jenem scheint das aber nicht richtig zu sein. Er sagt stattdessen, dass das Leiden
einem Menschen angehört und die Auferstehung einem Menschen und es bei der
Mysterienfeier der Leib eines Menschen sei, welcher vorliegt.
Wir aber glauben, dass es
das Fleisch des Logos ist, welches die Kraft, Leben zu spenden, dadurch besitzt, dass
es Fleisch und Blut des alles lebendig machenden Logos geworden ist.

Das auszusprechen erträgt jener nicht. Er stiftete Caelestius an, Schriften gegen den
Presbyter Philippus vorzulegen, der ihn beschimpft und wegen der Häresie nicht mehr
mit ihm verkehren will. In den Schriften stand aber der Vorwurf, dass er Manichäer sei.
Darauf hat er den Menschen zu einer Versammlung gerufen, und jener kam, wobei er
tat, was den Regeln entsprach, und bereit war, sich zu verteidigen. Da er aber nichts
vorzuweisen hatte, machte Caelestius sich davon und erschien nicht in der Versamm­
lung.

Da er diesen Anlass nicht finden konnte, wich er auf einen anderen aus. Er fragte
nämlich: Aus welchem Grund hast du eine private Zusammenkunft abgehalten und zu
Hause eine Opferhandlung vollzogen?
Obwohl beinahe der gesamte Klerus sagte:
„Auch jeder von uns tut dies bei Gelegenheit und Bedarf“, führte er ein Urteil auf
Amtsenthebung gegen diesen Menschen herbei.

Hier hast du Dokumente, welche die wesentlichen Punkte der Schmähungen des
Nestorius enthalten.

4–6 da … ausge­wählt]

Die Vorstellung einer πρόγνωσις, einer Kenntnis im Voraus, welche die Basis dessen bildet, was schließlich durch den Gott-Logos ins Werk gesetzt wird, findet sich unter den Nestorius zugeschriebenen Texten in Loofs, Nestoriana S. 224,8–10. Allerdings zählt dieser Pas­sus zu den Fragmenten, bei denen aufgrund der verwendeten Terminologie gewisse Zweifel an der Echtheit bestehen (vgl. ebd. S. 65). Auf der anderen Seite kommen Formen von προγιγνώσκειν in den Schriften Kyrills überaus häufig vor. Möglicherweise stellt er die Lehre seines Opponenten also hier auch nur in eigenen Worten dar.

6–7 und‌² … werden]

Möglicherweise spielt Kyrill mit diesen Worten auf den Umstand an, dass Nestorius Phil 2,9f. anscheinend an einigen Stellen dahin­gehend interpretiert hat, dass es das menschliche Element in Christus sei, welches durch die Ver­leihung des „über allem stehenden Namens“ (τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα) erhöht worden ist (Loofs, Nestoriana S. 261,18–262,4 [= CV166,II,11,1 – 4, ACO I,1,6 S. 48,33–36 (Dok. 25)] u. S. 334,27–335,2). Darüber hinaus berührt der hier angeführte Punkt inhaltlich aber natürlich auch die von Nestorius propagierte Lehre der ‚gemeinsamen Namen‘, gegen welche Kyrill im Verlauf der Auseinandersetzungen wie­der­holt und vehement Einwände erhob (vgl. z.B. CV166,II,1,97 – CV166,II,2,43, ACO I,1,6 S. 36,6–37,14 [Dok. 25]; CV150,20,1, ACO I,1,5. S. 69,18–70,11 [Dok. 40]).

14 sondern … an]

συνάφεια: Die in seinen Augen bestehende Defizienz des Begriffes der συνάφεια gegenüber dem der ἕνωσις, der Einung, ist zentraler Bestandteil der Kritik Kyrills an der nestorianischen Christologie. In seiner groß angelegten Streitschrift Contra Nes­to­ri­um widmet er diesem Thema z.B. weite Teile des zweiten Buches, wobei er auch einige Passagen, in denen Nestorius den umstrittenen Begriff verwendet, zitiert (vgl. CV166,II,1,1 – 16, ACO I,1,6 S. 34,20–31 [Dok. 25] = Nestoriana S. 272,13 –273,17; CV166,II,5,1 – 5, S. 41,23–25 = Nestoriana S. 354,7–11; CV166,II,6,1 – 8, S. 42,1–6 = Nestoriana S. 280,17–281,9; CV166,II,8,1 – 12, S. 44,8–16 = Nestoriana S. 275,1–15), um diesen Ausführungen dann seine eigenen gegenüberzustellen. In seinem dritten Brief an Nestorius wird der Begriff im dritten Anathematismus verurteilt (vgl. CV6,12,13 – 16, ACO I,1,1 S. 40,28–30 [Dok. 36]). Interessant in diesem Zusam­men­hang ist auch der zweite Briefwechsel der beiden Kontrahenten: Während Kyrill ausdrücklich die ‚Einung‘ der beiden Naturen erklärt (vgl. CV4,3,10 – 16, ACO I,1,1 S. 26,26–27,2 [Dok. 23]), gibt Nestorius ihm in seinem Antwortschreiben zu verstehen, dass er dessen Aussagen über die ‚Verbindung‘ der Naturen gutheiße (vgl. CV5,6,2 – 3, ACO I,1,1 S. 30,19f. [Dok. 24]).

15 und … sagt]

In der Hinleitung zu dem unmittelbar folgenden Zitat steht in der LXX εἶπεν κύριος πρὸς Ἰησοῦν. Daher ist wohl anzunehmen, dass auch im vorliegenden Text beim Subjekt in erster Linie an Gott (den Gott-Logos) und bei dem angesprochenen Ἰησοῦς an Josua zu denken ist.

15–16 Wie … sein]

Jos 3,7.

17 sagt‌¹ … war]

Vgl. z.B. Loofs, Nestoriana S. 262,7–12 (= CV166,II,13,1 – 6, ACO I,1,6 S. 51,5–8 [Dok. 25] = CV60,XV, ACO I,1,1 S. 12–16). Vgl. auch den korrespondierenden Satz oben CU4,10 – 11.

18 wahrhafter Gott]

Formel aus dem zweiten Artikel des Nizänums.

19–21 Und … wer­den]

Vgl. oben CU4,6 – 8 mit Anm.

20–21 dass … wer­den]

Vgl. oben CU4,6 – 7.

21–23 Und … betreffe]

Vgl. z.B. Loofs, Nestoriana S. 267,11–268,3 (= CV166,V,6,1 – 12, ACO I,1,6 S. 103,7–17 [Dok. 25]).

24 dass … ist]

Vgl. z.B. CV4,5,7 – 8, ACO I,1,1 S. 27,19f. (Dok. 23).

25–26 dass … hat‌¹]

Vgl. z.B. CV1,9,1 – 3, ACO I,1,1 S. 13,32f. (Dok. 5); CV4,3,10 – 12, ACO I,1,1 S. 26,28f. (Dok. 23).

26 im … hat‌²]

Vgl. 1 Petr 4,1.

28–29 Und … gesehen]

Vgl. z.B. CV4,5,13 – 14, ACO I,1,1 S. 28,1f. (Dok. 23).

28–29 schließlich … gesehen]

Vgl. Apg 2,31.

29–30 dass … ist]

Vgl. CV4,5,1, ACO I,1,1 S. 27,14f. (Dok. 23).

31–32 und‌² … vorliegt]

Vgl. z.B. Loofs, Nestoriana S. 356,12–357,4. (= CV166,IV,6,6 – 17, ACO I,1,6 S. 87,31–42 [Dok. 25]); Nestoriana S. 229,17–230,5 (= CV166,IV,7,1 – 8, S. 90,25–31).

32–34 Wir … ist]

Vgl. z.B. CV6,7,5 – 16, ACO I,1,1 S. 37,25–38,3 (Dok. 36).

35 Caelestius]

Der erwähnte Caelestius war zu diesem Zeitpunkt schon wegen seiner pela­gi­anischen Lehren als Häretiker verurteilt. Die Erwähnung einer Kooperation zwischen ihm und Nestorius stellt Letzteren also nicht gerade in ein günstiges Licht.

43–44 Aus … vollzogen]

Der Vorwurf geht vermutlich auf den 58. Kanon des leider nicht sicher zu datierenden Konzils von Lao­dikea zurück, der Bischöfen und Presbytern das Abhalten der Eucharistiefeier in privaten Häusern untersagt (ὅτι οὐ δεῖ ἐν τοῖς οἴκοις προσφορὰς γίνεσθαι παρὰ ἐπισκόπων ἢ πρεσβυτέρων: vgl. Joh. Scholast. Synag. 3,146,9f.).

47–48 Hier … enthalten]

Gemeint ist das gegen Nestorius gerichtete Dossier, das Kyrill durch seinen Diakon Poseidonios dem Papst in lateinischer Übersetzung über­bringen und erläutern ließ. Es umfasst neben dem Brief Kyrills an Coelestin (CV144, ACO I,1,5 S. 10,12–12,23 [Dok. 27]) besonders die fünf Bücher Contra Nestorium (CV166, ACO I,1,6 S. 13,4–106,41 [Dok. 25]) und die Schrift Ad Theodosium de recta fide (CV7, ACO I,1,1 S. 42,6–72,32 [Dok. 39]). Nach Graumann (2002a, S. 315–323, hier bes. S. 315 f., S. 320 Anm. 150 u. S. 322 f.) gehörten wohl auch mindestens noch folgende weitere Dokumente zu dem Dossier: Epistula ad Monachos (CV1, ACO I,1,1 S. 10,1–23,22 [Dok. 5]), der erste Brief Kyrills an Nestorius (CV2, I,1,1 S. 23,23–25,4 [Dok. 18]), der zweite Brief Kyrills an Nestorius (CV4, I,1,1 S. 25,17–28,26 [Dok. 23]), der Osterfestbrief Kyrills für das Jahr 429 (Hom. pasch. 17), sowie Auszüge aus den Predigten des Nestorius. Zum Dossier s. auch Caspar (1930), S. 395; Wojtowytsch (1981), S. 284; Graumann (2002b). Laut dem Bericht, den der alexandrinische Presbyter Petrus zu Beginn der ersten Sitzung der kyrillischen Synode vorträgt, sollte Poseidonios die ihm mit­ge­ge­be­nen Dokumente (τὰ παρ’ ἐμοῦ γράμματα) dabei nur dann an Coelestin aushändigen, wenn sich herausstellen sollte, dass auch Nestorius bereits Material (βιβλία τῶν ἐξηγήσεων) an den Bischof von Rom gesandt habe (vgl. CV34, ACO I,1,2 S. 8,4–10).

Die Akten des Konzils von Ephesus 431. Übersetzung, Einleitung, Kommentar

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