(31) „Der in den Tagen seines Fleisches unter lautem Rufen und Tränen Bitten und
Gebete an jenen richtete, der in der Lage war, ihn vor dem Tod zu erretten, und der
aufgrund seiner Frömmigkeit erhört wurde, lernte, obwohl er Sohn war, durch das,
was er erlitt, den Gehorsam. Und da er zur Vollendung gekommen ist, wurde er für
alle, die auf ihn hörten, zur Ursache der ewigen Rettung, von Gott Hohepriester
genannt im Range Melchisedeks.“ Der in jeder Hinsicht weise Paulus schreibt und
sagt denen, die im Glauben gerechtfertigt sind: „Werdet meine Nachahmer wie auch
ich [Nachahmer] Christi [bin].“ Und auch der Göttliches kündende Petrus sagt: „Was
ist das für ein Ruhm, wenn ihr duldet, indem ihr sündigt und geschlagen werdet?
Doch wenn ihr duldet, indem ihr Gutes tut und leidet, bedeutet dies Gnade vor Gott,
weil auch Christus für euch gestorben ist und so für euch ein Beispiel hinterlassen hat,
auf dass ihr seinen Spuren folgt.“
Der Einziggeborene hat sich also zum Ziel gesetzt, indem er die Ähnlichkeit mit
uns in Besitz nimmt, auf menschliche Weise zu leiden und jene, die mit ihm bekannt
sind, darüber zu belehren, auf welche Weise man den Angriffen der Versuchungen ent‐
gegentreten muss und von welcher Art jene sein sollten, die der Frömmigkeit gegen‐
über Gott wegen verfolgt werden und sich in Gefahr für Leben und Blut befinden, und
außerdem noch die ruhmreiche Vollendung des Gehorsams zu zeigen, auf dass auch
wir dem Heilsplan entsprechend als überaus tüchtige und weise Nachahmer dessen,
was durch ihn vollbracht worden ist, befunden werden und, indem wir uns bemühen,
seinen Spuren zu folgen, das in gutem Ruf stehende Leben wahrhaft durchleben. Weil
es sich also gebührt, dass diejenigen, denen es überhaupt bestimmt sein soll, für die
Liebe zu ihm zu leiden und die um der Frömmigkeit willen bestehende Gefahr als
Lebensinhalt zu betrachten, eine unverwundbare Geisteshaltung besitzen, will er
darüber belehren, aus welchen Anlässen er selbst duldete und um unseretwillen auf
menschliche Weise handelte. Er lässt jedoch nicht zu, dass jene, die mannhaft sind,
umsonst ihr Leben aufs Spiel setzen, und auch nicht, dass sie, indem sie das, was getan
werden muss, und das, wodurch billigerweise [auch] wider Erwarten Rettung gebracht
wird, in nachlässiger Weise fahren lassen, einfach nur hinnehmen, was denen, die be‐
wusst Böses tun, richtig erscheint. Er überredet stattdessen vielmehr dazu, sich Gebe‐
ten hinzugeben und unaufhörlich flehentliche Bitten an Gott zu richten. Er lehrt diese
Dinge, indem er Bitten und Gebete in den Tagen seines Fleisches an jenen herange‐
bracht hat, der ihn vor dem Tod erretten konnte.
Achte aber darauf, dass die Sache voll von dem Heiligen gebührender Schicklichkeit
ist. Denn standhaft gegenüber den Versuchungen zu sein, trägt zwar den Ruhm der
Mannhaftigkeit in sich, erweckt jedoch den Anschein, nicht gänzlich frei von Hoch‐
mut zu sein. Sich allerdings zu fürchten, zu verzagen zu scheinen und eines Gottes, der
die Macht zu retten besitzt, zu bedürfen, trägt eine Vorstellung von Frömmigkeit in
sich. Aus welchem Grund befiehlt er denn den heiligen Jüngern: „Wenn sie euch aber
in dieser Stadt verfolgen, flieht in eine andere“?Warum aber flieht auch der in jeder
Hinsicht weise Paulus, obwohl er klar und deutlich sagt: „Wer soll uns von der Liebe
Christi trennen? Bedrängnis, Not, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr oder Schwert?“,
vor dem Herrscher von Damaskus und wird über eine Öffnung durch die Mauer
herabgelassen? Es war also nötig, dass sich Christus uns selbst als Wegweiser und
Lehrer eines jeden Gutes zeigt. Denn er trat zwar ‚unter lautem Rufen‘ und ‚Gebet‘
heran, insofern er wie wir geworden ist, fand jedoch Gehör in dem Sinn, dass er als
natürlicher und wahrhaftiger Sohn nicht überhört wird. „Ich wusste nämlich“, sagt er,
„dass du mich überall hörst.“ Denn um dafür zu sorgen, dass unsere Gebete annehm‐
bar werden, beginnt er die Sache wiederum selbst, wobei er gleichsam das Ohr des
Vaters für die Natur des Menschen erweitert und möglichst aufnahmefähig für die Bit‐
ten der seinetwegen in Gefahr Geratenen macht. Also waren wir es, die in ihm wie in
einem zweiten Erstling des Geschlechts unter lautem Rufen und nicht ohne Tränen
beteten und dazu aufriefen, die Macht des Todes zunichte zu machen, das Leben aber,
das der Natur auch ein weiteres Mal geschenkt worden ist, in Blüte stehen zu lassen.
Dass es aber ein glänzendes und bewundernswertes Ziel darstellt, Gott zu gehor‐
chen, werden wir wiederum auf Grundlage desselben erkennen. ‚Durch das, was er
erlitt‘, sagt [Paulus], ‚lernte er den Gehorsam.‘ Das ist nämlich ähnlich, wie wenn er
etwa sagt: „Er hat sich selbst erniedrigt, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, den
Tod am Kreuz.“ Doch ist er nicht niedrig geblieben. Er wurde schließlich erhöht,
indem er einen Namen erhalten hat, der über jedem Namen steht. Und die Redeweise
ist zwar menschlich, das Vorbild der Handlung aber für uns überaus wertvoll, da es
den Gehorsam als etwas Ruhmvolles und Bewundernswertes und als Vermittler eines
jeden Gutes für uns darstellt. Es ist also für uns Vorbild und Beispiel, dass der Imma‐
nuel, als er versucht wird, unter lautem Rufen und Tränen betet, [und zwar] nicht vor
der Menschwerdung, sondern in den Tagen seines Fleisches, als es möglich war, auch
dies frei von Vorwürfen zu tun, wobei er an der Herrlichkeit seiner Gottheit in keiner
Weise Schaden nimmt, sondern der mit dem Fleisch verbundene Heilsplan ihm viel‐
mehr gestattet, dies zu tun. Auf welche Weise hat denn das Leben den Tod in Schre‐
cken versetzt? Wie kann derjenige, der uns selbst durch und durch mutig macht und
sagt: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten“, dabei ertappt werden, wie er
Verzagtheit erfährt? Oder warum sollte derjenige nicht stark genug gewesen sein, den
Tod vom eigenen Fleisch zu vertreiben, der ihn von allen fortgeschickt, der verspricht,
mit einem einzigen Ruf jene, die in den Gräbern [liegen], zu erwecken, und auch zeigt,
dass das nicht außerhalb seiner Möglichkeiten liegt? Schließlich rief er Lazarus zu:
„Hierher, heraus!“, und dem Sohn der Witwe: „Junge, ich sage dir, steh auf!“
Wenn es aber einige geben sollte, die sich erdreisten zu behaupten, dass es der von
der heiligen Jungfrau [Geborene] individuell als Mensch ist, der Bitten und Gebete
unter lautem Rufen an jenen richtete, der in der Lage war, ihn vor dem Tod zu erret‐
ten, sollen sie, da sie sich entschlossen haben zu denken, was den heiligen Schriften in
höchstem Grade widerspricht, gerechterweise einen der heiligen Apostel über diese
Dinge reden hören: „Diese sind es, die Grenzen ziehen, Psychiker, die keinen Geist
besitzen.“ Außerdem sollen sie noch Folgendes erklären: Meinen sie eigentlich, dass er
ein bloßer Mensch ist, oder besitzt er, wie sie sich zu sagen erkühnt haben, die Gleich‐
stellung an Würde und Vollmacht, die auf den aus Gott [gezeugten] Logos bezogene
meine ich, in dem Sinn, dass er mit ihm verbunden ist? Wenn sie nun sagen, dass er wie
wir bloßer Mensch sei, sind sie nach allgemeiner Übereinkunft Menschendiener, wenn
sie ihn verehren. Es steht schließlich geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott,
verehren und ihm allein dienen.“ Wenn sie aber sagen sollten, dass er zur Gleichstel‐
lung an Würde oder eben die auf den Gott-Logos bezogene Vollmacht berufen worden
ist, [dass] er dann an Gott, den Vater, unter lautem Rufen und mit Tränen in den
Augen herantritt und dessen, der da rettet, bedarf, gibt es nichts mehr, was an der
Annahme hindert, dass das Maß auch des Logos selbst ebenso groß ist, wie man wohl
glaubt, dass es auch das desjenigen ist, der auf ihn bezogen die Gleichstellung an
Würde oder eben Vollmacht besitzt. Demnach ziemte es sich auch ihm, den Tod zu
fürchten, Gefahr mit Argwohn zu betrachten, angesichts von Versuchungen zu weinen
und dahin zu kommen, das Bedürfnis nach der Hand eines anderen zu verspüren, um
auch gerettet zu werden, und außerdem auch noch Gehorsam durch das zu erlernen,
was er erlitten hat, als er versucht wurde. Aber das zu denken und zu behaupten ist
meiner Meinung nach vollkommen verbohrt. Der Logos Gottes ist nämlich in jeder
Hinsicht kraftvoll, stärker als der Tod, steht über den Leiden und hat überhaupt kei‐
nen Anteil an Verzagtheit, wie sie den Menschen entspricht. Doch auch bei derartiger
natürlicher Beschaffenheit hat er selbstverständlich um unseretwillen gelitten. Chris‐
tus ist also weder bloßer Mensch noch fleischloser Logos, sondern leidet vielmehr
geeint mit der uns entsprechenden Menschheit auf leidlose Weise durch das eigene
Fleisch Menschliches. Jenes ist also zum Vorbild für uns geschehen, wie ich eingangs
sagte, auf dass wir seinen Spuren folgen.