(1) Dass nun die göttliche Schrift im Hinblick auf die Geburt durch die christus‐
gebärende Jungfrau den Begriff ‚Sohn‘ setzt, haben wir deutlich gemacht. Höre aber
auch im Hinblick auf den Tod darauf, ob jemals ‚Gott‘ gesetzt worden ist, auf dass wir
einen leidensfähigen Gott einführen könnten. „Obwohl wir“, sagt er [sc. Paulus] „ver‐
feindet waren, sind wir mit Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt worden.“ Er
sagte nicht ‚durch den Tod des Gott-Logos‘.
Es trifft zu in Übereinstimmung mit dem, was geschrieben steht, dass „der Gerech‐
te in seiner Gerechtigkeit zugrunde geht“. Was aber von Natur aus dazu geneigt ist,
Unrecht zu tun, bringt auch den wohl gefestigten Geist von dem ab, was sich geziemt,
indem es sich zuweilen in die Auffassung über das, was zuträglich ist, einschleicht. Er
glaubt nämlich, in nicht unerheblichem Maße fromm zu sein, wenn er versucht, dem
Geltung zu verleihen, was von allen anerkannt wird, und deshalb sagt, dass der aus
Gott, dem Vater, [gezeugte] Logos als Gott der eigenen Natur nach über dem Leiden
steht und stärker als der Tod ist (auf welche Weise sollte das Leben schließlich ster‐
ben?). Er gerät allerdings auch jetzt um nichts weniger mit den Lehren der Kirche in
Konflikt, da er sich überhaupt nicht um den mit dem Fleisch verbundenen Heilsplan
des Einziggeborenen schert und die Tiefe des Geheimnisses in keiner Weise bedenkt.
Wenn er 〈nun〉 von uns wissen wollte, welcher Art die Natur des Logos ist, oder es nö‐
tig wäre, dass wir anderen, die fragen und erfahren wollen, eine Erklärung liefern, wäre
es sicherlich in jeder Hinsicht folgerichtig und notwendig, jeden klugen und wahren
Gedankengang durchzugehen und uns dabei zu bemühen zu beweisen, dass sie uner‐
reichbar für den Tod und gänzlich vom Leiden befreit ist. Da es ihm aber der Vorgang
der Menschwerdung gestattet – zumindest, solange es um die Erwägungen des Heils‐
plan geht –, auch wenn er sich dazu entschließt, im Fleisch zu sterben, an der eigenen
Natur nichts hinzunehmen, warum beraubst du uns [da] des herrlichsten Anlasses des
Stolzes? Erkundige dich bei dem, der da sagt: „Der gute Hirte setzt sein eigenes Le‐
ben für seine Schafe ein.“
Auch wenn also gesagt wird, dass er leide, wissen wir, dass er als Gott leidensun‐
fähig ist. Wir sagen aber, dass er dem Heilsplan entsprechend mit dem eigenen Fleisch
den Tod erlitten hat, auf dass er ihn mit den Füßen trete und dadurch, dass er auf‐
erstanden ist, insofern er dazu bestimmt ist, Leben und Lebenspender zu sein, das
durch den Tod Unterdrückte, also den Leib zur Unvergänglichkeit hin umwandele
und auf diese Weise die Kraft der guten Tat auf uns übergehe, indem sie sich auf das
gesamte Geschlecht ausdehnt. Und daher sagt der Göttliches kündende Paulus:
„Denn ich bin durch das Gesetz für das Gesetz gestorben, um für Gott zu leben. Ich
bin zusammen mit Christus gekreuzigt worden, und nicht mehr ich lebe, sondern
Christus lebt in mir. Was ich aber jetzt lebe, lebe ich im Glauben {im Fleisch} an den
Sohn Gottes, der mich lieb gewonnen und sich selbst für mich dahingegeben hat. Ich
verwerfe die Gnade Gottes nicht.“ Wir durchleben nämlich nicht mehr unser eigenes
Leben, sondern vielmehr das in Christus, und es ist wahr, dass „einer für alle gestorben
ist, auf dass die Lebenden nicht mehr für sich selbst lebten, sondern für den, der für
alle gestorben und auferweckt worden ist“.Bevor nämlich der einziggeborene Logos
Gottes für uns aufleuchtete, verbrachten wir Elenden, die wir von Torheit und
Finsternis beherrscht wurden, das Joch der Sünde trugen, die Verehrung in gottloser
Weise der Schöpfung statt dem Schöpfer und Erschaffer zukommen ließen und
willkürlich jede Form von Schlechtigkeit betrieben, unser Leben in Abspaltung, da wir
ihm feindlich gesinnt waren.Wir sind jedoch durch den Tod seines Sohnes versöhnt
worden, wie geschrieben steht.
Du hast der Wahrheit allerdings wieder einmal wenig Bedeutung beigemessen und,
indem du uns zeigst, dass deine Rede sich unkontrolliert in Richtung Nichtigkeit
neigt, sagst du, die Welt sei mit Gott nicht durch den Einziggeborenen, das heißt den
aus Gott, dem Vater, entstandenen Logos versöhnt worden. Wenn du aber vom Tod
des Sohnes hörst und dann, wie du glaubst, feinsinnig die Aussagen des göttlich spre‐
chenden Mannes prüfst, fürchtest du dich nicht zu sagen: ‚Es hieß nicht: durch den
Tod des Gott-Logos.‘ Wie wäre demnach, sag es mir, eine solche Äußerung klug, wie
nicht vielmehr voll von schierer Umnebelung? Wie wäre es dann folgerichtig, das
Leben dem Tod untertan zu machen? Sag es mir! Und wie wäre es nicht vollkommen
sinnlos und führte zu Recht zum Vorwurf einer ins Extrem getriebenen Lästerung, die
allem Leben schenkende Natur der Vergänglichkeit zu beschuldigen? Daher folgt der
Sinn der Heiligen keineswegs deinen fruchtlosen Bemühungen zu diesem Thema oder
eben deinem sinnlosen Geschwätz. Dafür weiß er genau, dass der Logos Gottes unse‐
retwegen im Fleisch gelitten und durch den Tod seines eigenen Leibes die Welt zur
Aussöhnung eingeladen hat, der mit dem Vater in den Himmeln, meine ich. Und da‐
her sprach er an einer Stelle zu einem der heiligen Jünger, indem er sagte: „Ich bin der
Weg, die Wahrheit und das Leben, und niemand gelangt zum Vater außer durch mich.“
Was sollen Wahrheit, Leben und Weg aber anderes sein als der aus Gott entstandene
Logos, selbst wenn er wie wir geworden ist, indem er die Gestalt eines Knechtes ange‐
nommen hat?
Dass wir durch ihn aber ‚als Teilhaber der göttlichen Natur‘ ausgewiesen worden
sind und wir, ‚die einst fern waren, in die Nähe gerückt sind‘, indem wir durch ihn
verhältnisartig mit dem Vater geeint werden und auch mit anderen auf Grundlage eines
Glaubens und von Einmütigkeit, weil wir an einem Geist Anteil erhalten haben, soll er
selbst versichern, wenn er zum Vater und Gott in den Himmeln spricht: „Aber nicht
allein ihretwegen frage ich, sondern auch deretwegen, die durch ihr Wort an mich
glauben, auf dass alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, auf dass auch
sie selbst in uns eins seien, damit die Welt daran glaube, dass du mich gesandt hast.
Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben, auf dass sie
eins seien, wie wir eins sind, und ich in ihnen und du in mir, auf dass sie zu einem
vollendet seien.“ Erkenne nun, dass er selbst naturhaft im eigenen Vater ist, sich aber
dadurch als Mittler und Versöhner erwiesen hat, dass er wie wir geworden ist, und in
uns ist durch sein eigenes Fleisch, das uns im Geist Leben schenkt, und dadurch, dass
wir Anteil an seiner Heiligkeit erhalten haben, natürlich wieder der durch den Heili‐
gen Geist [wirkenden]. Er fordert es aber wie eine vom Vater [ausgehende] Herrlich‐
keit, uns seine eigene Natur offenbar zu machen, dass er [nämlich] Lebenspender ist
und als Gott stärker als der Tod. Und daher sagte er wiederum: „Ich habe dich auf der
Erde verherrlicht, indem ich das Werk vollbracht habe, was du mir aufgetragen hast,
damit ich es tue. Und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir mit der Herrlichkeit, die
ich, bevor es die Welt gab, bei dir hatte!“ Das vollbrachte Werk sind wir in dem Sinn,
dass wir in ihm als erstem das Verderben besiegt und die Macht des Todes mit Füßen
getreten haben. Er kehrte nämlich von den Toten ins Leben zurück und hatte dabei
alle in sich.
Indem du das Gesagte aber vielleicht auf andersartige Überlegungen beziehst, sagst
du, dass dies nicht mit Blick auf den Gott-Logos aufgefasst werden dürfe. Und indem
du von ihm den von der heiligen Jungfrau Geborenen entfernst und ihn separat wie ei‐
nen anderen Sohn bestimmst, bekräftigst du selbst, dass ihm solche Dinge zukommen,
und trachtest danach, andere dazu zu überreden, dasselbe wie du zu denken und zu
sagen. Du wirst aber wohl sicherlich sagen, dass der einziggeborene Logos Gottes, da
er ‚Herr der Herrlichkeit‘ ist, wohl nicht, als ob er einen Mangel an Herrlichkeit litte,
die vom Vater ausgehende fordere. Höre daher auch von uns: Wenn du meinst, dass es
nicht der aus Gott der Natur nach einziggeborene Sohn selbst sei, der in dieser Situa‐
tion von seinem Vater Herrlichkeit verlangt, wer war [dann] derjenige, der sagte: „Ver‐
herrliche mich mit der Herrlichkeit, die ich, bevor es die Welt gab, bei dir hatte“? In‐
wiefern ist nun, sag es mir, der von der heiligen Jungfrau [Geborene], wenn er deiner
Meinung entsprechend für sich als Mensch aufgefasst wird, vorweltlich? Sollte es sich
etwa für den Schöpfer der Zeiten nicht ziemen, eine ältere Existenz als die Welt zu
besitzen und gleich ewig mit dem Vater zu sein? Daran soll doch wohl niemand unter
jenen zweifeln, die sich entschieden haben, vernünftig zu denken. Zu der Zeit, als er
sich entäußert hat, indem er die Gestalt eines Knechtes angenommen hat, sagt er, als
er zu der ihm von Natur aus innewohnenden Herrlichkeit zurückkommen will, zu‐
sammen mit dem mit ihm geeinten Fleisch: „Verherrliche du mich, Vater, bei dir mit
der Herrlichkeit, die ich, bevor es die Welt gab, bei dir hatte,auf dass die Welt glaube,
dass du mich gesandt hast! Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast,
ihnen gegeben, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind, und ich in ihnen und du in mir,
auf dass sie zu einem vollendet seien.“ Durch ihn haben wir demnach die Versöhnung
erlangt. Er hat nämlich auf diese Weise das Werk vollendet, welches ihm der Vater zur
Vollendung überlassen hat. Und zum Unterstützer meiner Worte will ich wiederum
den überaus heiligen Paulus machen, der den aus den Völkern Berufenen Folgendes
geschrieben hat: „Nun seid ihr in Christus Jesus, die ihr einst fern wart, im Blut
Christi in die Nähe gerückt. Er selbst ist nämlich unser Frieden, der beide Dinge zu
einem gemacht und die Wand der Trennung, die Feindschaft, in seinem Fleisch einge‐
rissen hat, indem er das Gesetz der Gebote in Vorschriften außer Kraft gesetzt hat,
auf dass er die zwei in sich zu einem neuen Menschen mache, indem er Frieden schuf,
und die beiden in einem Leib mit Gott aussöhne durch das Kreuz, indem er die
Feindschaft in seiner Person abtötete. Und als er kam, verkündete er uns Frieden, den
Fernen und den Nahen.“ Und auch auf andere Weise: „Da wir nun gerechtfertigt sind
aufgrund des Glaubens, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Chris‐
tus.“ Wir sind also mit Gott, dem Vater, versöhnt worden durch den Tod seines Soh‐
nes, der die Feindschaft in seinem Fleisch außer Kraft gesetzt oder eben abgetötet hat,
wie es die heiligen Schriften verbürgen.
Du jedoch machst die Erwägungen des Heilsplans zunichte und hältst es nicht für
wichtig, zu bekennen, dass der Logos Gottes für uns im Fleisch gelitten hat, wobei du
dich auf irgendwelche unverständlichen Argumentationen stützt. Du behauptest näm‐
lich, dass der Begriff ‚Sohn‘ eine gemeinschaftliche Bezeichnung für den aus Gott ent‐
standenen Logos und uns selbst sei. Darüber hinaus wirst du eindeutig dabei ertappt,
wie du, indem du den Gott-Logos, durch den wir gerettet worden sind, im Hinblick
auf die uns zuteil gewordenen Güter für unwirksam erklärst, das, wofür er gepriesen
wird, einem der Unsrigen wie einem anderen, der zusätzlich zu ihm und für sich wahr‐
genommen wird, zuweist. Du glaubst jedoch, dass dir die Gleichnamigkeit zum Beweis
dessen, was du gesagt und nicht recht durchdacht hast, vollkommen ausreichen werde,
ohne dabei zu bedenken, dass sich, auch wenn man sagt, dass sich gegenüber denen,
denen es zuteil geworden ist, der Natur nach irgendetwas zu sein, gewisse andersartige
Wesen gleichnamig verhalten, die der Natur nach [bestehenden Dinge] nicht aus die‐
sem Grund abgestoßen werden dürfen, indem man in jedem Fall deren Eigenschaften
denen umlegt, die aufgrund von Vereinbarung und Nachahmung [so heißen]. Es ist
stattdessen, glaube ich, nötig, immer die Naturen der Dinge, die vollbracht werden, zu
prüfen und sie denen zuzuweisen, denen sie am ehesten zukommen, wie zum Beispiel
Gott Vater genannt wird und es tatsächlich ist. Nach ihm ist aber auch ‚jede Vater‐
schaft im Himmel und auf der Erde benannt‘, wenn man nach der Schrift geht. Es gibt
für uns jedoch auch andere fleischliche und geistige Väter. Wenn nun etwas von den
Dingen, die im höchsten Maße Gott geziemen, über Gott, den Vater, ausgesagt wird,
sollte es etwa auch auf jene passen, die auf Grundlage einer Vereinbarung dieselbe Be‐
nennung wie jener erworben haben, und sollte die Wesensart der Gleichnamigkeit ihn
aus dem, was ihm allein in höchstem Maße angemessen ist, verdrängen? Inwiefern ist
es nun aber nicht allen klar, dass es seltsam und schräg ist, wenn sich manche von den
unter uns [Weilenden] dazu entschieden haben, so zu denken oder zu sprechen?
Warum entehrst du also, wenn du fortwährend die Gleichnamigkeit anführst, den
von Natur aus und wahrhaft [existierenden] Sohn, indem du ihn von den Verdiensten
um uns entfernst und entfremdest? Es ist nun aber nötig, das zu einer Einung zu ver‐
sammeln, was du, ohne rot zu werden, vollständig trennst, und den aus Gott, dem
Vater, [gezeugten] Logos zusammen mit seinem eigenen Fleisch als einen aufzufassen.
Du wirst dich nämlich auf diese Weise von langwieriger Anstrengung befreien, künftig
Lob dafür erhalten, richtig zu denken, und keineswegs die Gottheit des Einziggebo‐
renen leidensfähig nennen. Vielmehr wirst du zusammen mit uns bekennen, dass er
der Natur nach Leben und Lebenspender ist und gewiss auch jenseits allen Leidens
steht, dann, nachdem das mit ihm geeinte Fleisch gelitten hatte, ‚durch die Gnade
Gottes‘ der Schrift nach ‚für jeden den Tod kostete‘, auf dass er, indem er den eigenen
Tempel als überlegen gegenüber jenem ausweist, der alle [Menschen] auf der Erde be‐
siegt hat, ‚Erstling der Entschlafenen‘ und ‚Erstgeborener von den Toten‘ heiße und er,
indem er die Gnade auch uns zukommen lässt, in dem Sinn, dass er als einziger und
alleiniger Sohn existiert, sowohl vor der Menschwerdung als auch noch danach, Retter
und Erlöser des Alls genannt werde und außerdem, indem er, wie ich sagte, alle, die an
ihn glauben, von der Sünde befreit, ‚den Fernen und den Nahen‘ zum ‚Frieden‘ werde,
da er jene, die lange Zeit der Schöpfung gedient haben und durch die Sünde mit dem
vollkommen guten Gott verfeindet sind, durch sich mit Gott, dem Vater, versöhnt.
Doch er [sc. Nestorius] spricht, indem er den einen Herrn Jesus Christus zu einer
Zweiheit von Söhnen zerteilt, an einer Stelle folgendermaßen: