[Brief] Kyrills an einen Anhänger des Nestorius:
Ich kenne das lautere Wesen deiner Liebe, und dein Eifer ist mir nicht unbekannt.
Und wenn ich an irgendwelche Menschen schriebe, die meine Art nicht kennten,
würde ich viele Worte machen und zu überzeugen versuchen, dass ich überaus fried‐
fertig bin und weder streitsüchtig noch kampfverliebt, sondern den Wunsch habe, alle
zu lieben und von allen geliebt zu werden. Da ich aber an einen Wissenden schreibe,
fasse ich jenes kurz und kläre darüber auf, dass ich, wenn es darum gegangen wäre,
einen Verlust von Wertsachen oder Geld hinzunehmen und den Kummer eines
Bruders zu beenden, ich [das] gern getan hätte, um nicht den Anschein zu erwecken,
der Liebe irgendetwas vorzuziehen. Da es aber um den Lehrsatz des Glaubens geht
und gleichsam alle Gemeinden im gesamten römischen Reich Anstoß genommen
haben (es findet sich schließlich niemand, der aus irgendeiner beliebigen Stadt oder
einem Ort kommt und nicht sagt, dass dies das Gesprächsthema ist, und [fragt], was
für eine neue Lehre in die Gemeinden eingeführt wird), was sollen wir, denen die
Bedeutung des Geheimnisses von Gott anvertraut worden ist, darauf tun? Wir, gegen
die am Tag des Gerichts jene, die unterwiesen worden sind, gewiss prozessieren
werden?Sie werden nämlich sagen, dass sie den Glauben so bewahrt haben, wie sie
von uns unterwiesen worden sind. Und wenn wir dies richtig gemacht haben, werden
wir auch Lohn empfangen, werden wir auch Lob erlangen. Wenn aber anders und in
verdrehter Weise, welche Flammen reichen [da] für uns aus? Wir werden schließlich
gemäß der Schrift zu hören bekommen: „Du hast mein Land vernichtet und mein Volk
getötet.“ Und jeder, der zu den Laien zählt, wird sich für sein eigenes Leben
rechtfertigen. Wir aber, die wir die Bürde priesterlichen Dienstes tragen, werden nicht
allein für uns selbst, sondern für alle, die an Christus glauben, Rechenschaft ablegen.
Kein Wort von mir also über den Kummer, die Kränkung, die so heftige Schmä‐
hung, die von einigen derer, die in keinem guten Ruf stehen, gegen mich vorgebracht
worden ist. All das soll dem Vergessen anheimfallen, und Gott wird auch die Schwät‐
zer richten. Allein die Sache des Glaubens soll bewahrt werden. Und ich bin freund‐
lich und liebenswert und gestehe es keinem zu, den gottgefälligen Bischof Nestorius
inniger lieben zu müssen, von dem ich, wie ich bei Gott sage, möchte, dass er bei
Christus in gutem Ruf steht und dass sich der Vorwurf, der seitens der Vorbeikom‐
menden [erhoben wird], in Luft auflöst und sich das Gerede über den Glauben, das
von einigen [zu hören ist], als Verleumdung und als nicht in jeder Hinsicht wahr
erweist. Wenn es uns aber von Christus aufgetragen worden ist, auch die Hassenden
zu lieben, wie ist es [da] nicht in noch größerem Maße für die Brüder und Mitpriester
angemessen, dies zu tun? Denn dass wir, wenn der Glaube von einigen geschwächt
werden sollte, deren Seelen nicht fallen lassen werden, selbst wenn davor stehen sollte,
auch selbst den Tod zu erleiden, steht außer Zweifel. Wenn wir uns nämlich fürchten,
für den Ruhm Gottes die Wahrheit auszusprechen, damit wir keinen Unannehmlich‐
keiten ausgesetzt sind, mit welcher Miene sollen die dann vor den Laien die Lobes‐
hymnen auf die heiligen Märtyrer anstimmen? Die loben wir, weil sie den Spruch
beachtet haben: „Bis zum Tod kämpfe für die Wahrheit.“