Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹.
Eine überlieferungskritische Ausgabe in digitaler Form
Voraussetzungen
Wolfram von Eschenbach hat mit seinem ›Parzival‹ einen der bedeutendsten Erzähltexte des
europäischen Mittelalters geschaffen. Der zwischen 1200 und 1210 entstandene Versroman verbindet
den keltischen Artusstoff mit religiöser Gralsthematik. Als zentral erscheint dabei die Frage,
wie eine von Widersprüchen und Gegensätzen zerrissene Welt wieder heil wird.
Wolfram verleiht dieser Frage in der fiktiven Gestalt seines ›Parzival‹ ein überzeitliches
Gepräge, und er hat damit eine intensive Rezeption hervorgerufen. Allein die heute bekannten
Zahlen der mittelalterlichen ›Parzival‹-Überlieferung sprechen für sich: Man kennt 16
(annähernd) vollständig erhaltene Handschriften, über 70 Fragmente sowie einen Druck vom Jahr
1477. Schätzungen der im Mittelalter kursierenden Überlieferungsträger belaufen sich auf bis zu
1000 Textzeugen.
Seit im 18. Jahrhundert das Interesse an den volkssprachigen Dichtungen des Mittelalters
wiedererwacht ist, beschäftigt sich auch die moderne Literaturwissenschaft mit Wolframs
Gralsroman. Die dabei erarbeiteten Deutungen sind ebenso vielfältig wie kontrovers. Doch
orientiert sich die Exegese an einer Ausgabe, die – zu ihrer Entstehungszeit ein editorisches
Meisterwerk – gegenwärtigen Ansprüchen nicht mehr genügen kann. Karl Lachmanns
›Parzival‹-Edition von 1833 bildete für Generationen von Germanisten die maßgebliche Basis der
Auseinandersetzung und fand Neubearbeitungen bis ins 21. Jahrhundert. Dass sie bis heute
unersetzt blieb, liegt an der Fülle des handschriftlichen Materials und am Umfang des nahezu
25.000 Verse umfassenden ›Parzival‹-Romans. Gleichwohl ist man sich in der jüngeren Forschung
einig über die Notwendigkeit einer Neuausgabe, und entsprechend unbefriedigend gestaltet sich
die Arbeit mit einem gemeinhin als revisionsbedürftig erkannten Text.
Kritik findet Lachmanns Methode der Textherstellung, die ein überlieferungsgeschichtlich nicht
einholbares Autororiginal zu rekonstruieren sucht. Kritik finden zahlreiche editorische
Entscheidungen Lachmanns, so namentlich jene, im Handschriftenapparat die
Überlieferungsverhältnisse nicht genau zu bezeichnen, sondern durch Gruppensiglen zu
verschleiern. Kritik findet schließlich die Tatsache, dass die von Lachmann abhängigen
Neuausgaben die Vielzahl der inzwischen bekannt gewordenen Überlieferungsträger nicht
hinreichend berücksichtigen. Aus diesen Defiziten ist das Desiderat einer neuen kritischen
Textausgabe erwachsen, die auf der Grundlage der gesamten heute bekannten Überlieferung basiert
( ).
Methodischer Kontext
Dieses Desiderat findet sich auf zentrale Probleme in der philologischen Theoriediskussion der
germanistischen Mediävistik verwiesen. Zu nennen wären Phänomene wie das Verhältnis von
Aufführung und Schrift, die vielfach beobachtbare Varianz mittelalterlicher Texte, Konzepte der
Autorschaft und Überlieferungsgeschichte sowie Fragen einer adäquaten Textherstellung und
Textpräsentation. Sehr stark vereinfacht ließe sich sagen, daß die Fachdebatte um zwei
Standpunkte kreist, die man schlagwortartig mit den Begriffen New Philology und New Phylogeny benennen könnte (bei letzterem handelt es sich um
einen hier in Anlehnung an die Bezeichnung New Philology geprägten Neologismus):
Die betont die handschriftliche Vielfalt und die daraus resultierende Unfestigkeit der mittelalterlichen
Texte. Sie tendiert dazu, die Hierarchie der einzelnen Überlieferungszeugen zugunsten eines prinzipiell
variablen, unfesten Status der mittelalterlichen Handschriftenkultur preiszugeben.
Die New Phylogeny hält demgegenüber an handschriftlichen Bezügen und Gruppierungen als
der Basis überlieferungskritischer Untersuchungen fest. Der aus der Evolutionsbiologie stammende
Begriff Phylogeny (deutsch: ‚Phylogenese‘) bezeichnet die stammesgeschichtliche
Verwandtschaft der Arten und wird im angelsächsischen Raum derzeit auf Fragen handschriftlicher
Beziehungen angewandt, so etwa in der .
Eine kritische Neuausgabe des ›Parzival‹ muss der zu verarbeitenden Lesartenfülle und den nicht
unbeträchtlichen Problemen der Textherstellung vor dem methodischen Hintergrund der Polarität
von New Philology und New Phylogeny begegnen. Damit erscheint eine in der ›Parzival‹-Philologie der
sechziger Jahre erhobene Forderung aktueller denn je, nämlich „vor der Klärung der
Hss.-Verzweigung das gesamte Material, das zur textkritischen Auswertung gesammelt wurde, [...]
zu publizieren“ ( ).
Der Gedanke mag, als er 1968 vorgebracht worden ist, utopisch erschienen sein. Er lässt sich
jedoch heute mit Hilfe digitaler Methoden umsetzen. Eine überlieferungskritische Ausgabe in
digitaler Form ist die unverzichtbare Voraussetzung für jede Neuedition des ›Parzival‹.
Das Parzival-Projekt
Im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds und phasenweise von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts erarbeitet ein von Prof. Dr. Michael Stolz
geleitetes Forschungsteam an der Universität Bern eine solche digitale Ausgabe. Dabei wird eine
Edition nach Fassungen erstellt, die auf Volltranskriptionen aller Textzeugen beruht und in
Anlehnung an den von Joachim Bumke geprägten vier Textfassungen dokumentiert: *D (basierend u.a. auf Handschrift D), *m (basierend u.a. auf den
Handschriften mno), *G (basierend u.a. auf den Handschriften GI LM OQR Z), *T (basierend u.a. auf
den Textzeugen TUVW).
Durch die Neuedition wird – im Sinne der New Philology – die Unfestigkeit des Textes in
ihrer überlieferungsgeschichtlichen Vielfalt sichtbar. Gleichzeitig ermöglichen digitale
Speicherverfahren auch – den Forderungen der New Phylogeny entsprechend – einen neuen
Blick auf handschriftliche Beziehungen. Hierbei kann auf stemmatologische Vorgehensweisen
zurückgegriffen werden, die der niederländische Romanist entwickelt hat.
Anstelle von historischen Genealogien handschriftlicher Stammbäume geht Dees von Verkettungen in
sogenannten ‚unrooted trees‘ aus, die keinen Aufhängungspunkt haben und auf die von einem
Archetypus ausgehenden Verzweigungen verzichten. Dieses Abstraktionsniveau macht das Aufzeigen
von Beziehungen zwischen handschriftlichen Varianten möglich, ohne dass daraus schon zwingend
genealogische Abhängigkeiten erschlossen werden. Nach demselben Prinzip verfahren
phylogenetische Analysen der Evolutionsbiologie, die aufgrund bestimmter Eigenschaften einzelner
Arten deren Beziehungen und Gruppierungen ermitteln, noch ehe daraus Schlussfolgerungen über die
Stammesgeschichte selbst gezogen werden. In Zusammenarbeit mit Biologen und Philologen an den
Universitäten Cambridge (England) und Helsinki (Finnland) konnten solche ‚unrooted trees‘ zu
verschiedenen Abschnitten des ›Parzival‹-Romans erstellt werden. Vgl. dazu den Beitrag von Michael Stolz in: Wolfram-Studien
23 (2014), bes. S. 459–465.
Editionsproben
Welche Möglichkeiten die synoptische Darstellung von Fassungen und Überlieferungsträgern am
Bildschirm bietet, zeigt die Abteilung Editionsproben auf dieser Website. Dort werden auch die
Verfahren der und das Modell einer (basierend auf Codex 857 der Stiftsbibliothek St.
Gallen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, Hs. D) erläutert.
Zweifellos kann in einer Digitaledition die von der New Philology postulierte Varianz
angemessener dokumentiert werden als in konventionellen Textausgaben. Die kritischen Apparate
traditionellen Zuschnitts teilen die Lesarten zumeist nur punktuell mit, wobei die Varianten
Wort für Wort wiedergegeben werden. Am Bildschirm hingegen wird die überlieferungsgeschichtliche
Vielfalt nachvollziehbar. Der zweite wichtige Vorteil der Digitaledition liegt jedoch gerade in
dem von der New Phylogeny geforderten Aufweis handschriftlicher Gruppierungen.
Computerprogramme beschleunigen die Analyseverfahren und erleichtern eine flexible Handhabe
handschriftlicher Zuordungen. Sie erlauben die zügige Revision philologischer Urteile über
Leithandschriften und stemmatologische Relationen.
Somit ermöglicht die Digitaledition eine Synthese von zunächst gegensätzlich erscheinenden
philologischen Standpunkten. In der Kombination von Ansätzen der New Philology und der New Phylogeny bietet sie die unabdingbare Voraussetzung für jede kritische Neuausgabe des ›Parzival‹. Indem sie
stemmatologische Methoden mit überlieferungs- und mediengeschichtlichen Zugängen verbindet, stellt
sie darüber hinaus eine neue Editionsform eigener Prägung und eigenen Rechts dar. Die Benutzerinnen
und Benutzer werden dabei bis zu einem gewissen Grad an der editorischen Arbeit beteiligt und erhalten
Freiräume im Zugriff auf unterschiedliche Textversionen und deren handschriftliches Erscheinungsbild.
Die auf diese Weise bereitgestellten Überlieferungszeugnisse dürften für Literar- und Sprachhistoriker
gleichermaßen von Interesse sein.
Die Nutzung des digitalen Mediums fügt sich somit in einen jahrhundertealten
Überlieferungsprozess ein - vom Zeitalter nach Gutenberg gelangen die Benutzerinnen und Benutzer
in die Ära vor Gutenberg. Hier zeigt sich die kulturwissenschaftliche Relevanz der digitalen
›Parzival‹-Ausgabe: Sie steht im Kontext aktueller Ausrichtungen der historischen
Wissenschaften, die sich vermehrt der überlieferungsgeschichtlichen Medialität sowie
diskursanalytischen und anthropologischen Fragestellungen zuwenden. Nach der an historischen
Großereignissen orientierten politischen Geschichte und der über die menschliche Arbeit
definierten Sozialgeschichte rücken Aspekte der Vermittlung, Tradierung und Speicherung
historischer Wissensbestände in den Vordergrund. An die Stelle des homo laborans tritt
der homo tradens der historischen Anthropologie.