CPal22: Nestorius’ Antwort auf die Homilie des Proklos von Kyzikos (sermo 27)

Inhalt: Unmittelbar nachdem der Bischof von Kyzikos Proklos seine Predigt zum Fest der Verkündi­gung des Herrn in der Hauptkirche von Konstantinopel gehalten hat (CV19, ACO I,1,1 S. 103–107 [Dok. 3]), antwortet Nestorius darauf mit einer Predigt, in der er seiner Gemeinde nicht ohne Sei­tenhiebe auf die gegnerische Position seine eigene Lehre von den zwei Naturen nahebringt.

Edition: Collectio Palatina 22, ACO I,5 S. 37,28–39,18; ältere Edd.: Baluze (1684), S. 70–74; Loofs, Nestoriana S. 336–341; PL 48, Sp. 782–785

Verzeichnisnummern: CPG 5716

Verfasser: Nestorius von Konstantinopel, Marius Mercator (Übers.)

Datierung: Datierung unsicher: Ende 428 (bis Frühjahr 430)

Griech. Original: –

Weitere lat. Versionen: –

Literatur: Bauer (1919), S. 27–33; Konoppa (2005), S. 239–247; Bevan (2016), S. 103f.

Ebenso eine andere Predigt:

Dass die christusliebenden Völker denen Beifall zollen, die der seligen Maria die
Ehrfurchtsbezeigung einer Predigt angedeihen lassen, ist nicht verwunderlich. Denn
eben dies, dass sie zum Tempel jenes Fleisches des Herrn wurde, geht über alles
hinaus, was des Lobes ganz besonders würdig ist.
Aber auf jenes muss Eure Liebens­
würdigkeit
achten, dass wir nicht, wenn wir uns mehr, als es gehörig ist oder sich
ziemt, der Verehrung und dem Lob jener seligen [Frau] zuwenden, die Würde des
göttlichen Wortes zu entstellen scheinen, indem wir es zu einem zweimal Gezeugten
machen. Und um es einfacher auszudrücken, damit nicht das, was gesagt wird, das
Fassungsvermögen der Hörer übersteigt, will ich die für alle am leichtesten zu be­
greifende Ausdrucksweise verwenden.

Wer einfach sagt, Gott sei von Maria geboren worden, der hat zuallererst die vor­
nehme Lehre den Heiden preisgegeben, und indem er sie öffentlich zur Schau stellt,
setzt er sie Tadel und Lächerlichkeit aus. Wenn nämlich der Heide voller Ablehnung
vernimmt, dass von Maria ein Gott geboren [S. 38:] wurde, stürzt er sich sofort auf
den Christen.
Denn notwendigerweise muss der, der einfach sagt, Gott sei von Maria
geboren worden, und nicht bedenken möchte, dass jener durch die Verbindung
[seiner] beiden Naturen existiert, nämlich der göttlichen und der menschlichen, hören:
‚Ich kann keinen Gott anbeten, der geboren wurde, gestorben und begraben ist.‘ Dies
bedeutet aber eine klare [Begriffs]unterscheidung der Lehre. Der geboren wurde und
um der [verschiedenen] Phasen des Wachstums willen Zeit benötigte und die gehöri­
gen Monate hindurch im [Mutter]leib getragen wurde, der besitzt die menschliche
Natur, die aber freilich mit Gott verbunden ist. Eines aber ist es zu sagen, dass jener
Gott, der das Wort des Vaters ist, mit dem von Maria Geborenen verbunden war, was
den Heiden sehr klar, sicher und untadelig ist, und ein anderes, dass die Gottheit
selbst der Monate durchlaufenden Schwangerschaft bedurfte. Das göttliche Wort ist
nämlich Schöpfer der Zeiten, [es wurde] nicht [selbst] in der Zeit gefertigt.

Ich bewundere nun überdies sehr die Unterscheidung, [die] der vorangehende
Lehrer
[vorgenommen hat], der sagt, es gezieme sich nicht zu sagen, dass ein Gott
nackt und wie auch immer gezeugt wurde (denn niemand zeugt jemanden, der älter ist
als er), und es dürfe ebenfalls nicht zugegeben werden, dass die bloße Menschheit
geboren wurde.
Vielmehr [müsse bekannt werden], dass die mit Gott verbundene
Menschheit gezeugt wurde. 〈Ich will〉 aber, dass ihr euch jener [Frage] zuwendet, [ihr,]
die ihr aufmerksame Prüfer der Religion seid
(denn diese Meinung habe ich über euch
wie über die Antiochener), dass ihr euch also, wie ich sagte, jener [Frage] zuwendet:
Ich kann es nicht ertragen, dass Gott als ein Hohepriester geschaffen wurde. Denn
wenn Gott Schöpfer und Hohepriester ist, wem muss [dann] von den Hohepriestern
das Opfer dargebracht werden?

Dies habe ich zu Eurer Liebe geäußert und ich würde mehr sagen, wenn sich nicht
das in meine Seele eingeschlichen hätte, dass ich zu erörtern scheine, was den Lehrern
der Kirche entgegengesetzt ist. Ich will also, dass ihr bei der Überprüfung der Lehr­
sätze [so] einsichtsvoll seid, dass ihr weder die vom göttlichen Wort angenommene
Menschheit vermischt noch sagt, dass der, der geboren wurde, ein bloßer Mensch war,
aber auch nicht, dass das göttliche Wort vermischt oder vermengt wurde, 〈denn so〉
verlieren 〈beide〉 Naturen ihr [jeweils] eigenes Wesen. Deswegen sagten auch die hin­
zutretenden Engel zu der Zeit, als [Christus] in den Himmel erhoben wurde, den in
Staunen versetzten Jüngern, die [gerade] dies bei sich erwogen, [nämlich] ob die
menschliche Natur sich aufgelöst habe oder ob sie in den Himmeln in demselben
Wesen verblieben sei, und die über seinen Anblick staunten: „Dieser Jesus“, der
sichtbar ist, dieser [Jesus], der einem monatelangen Wachstum[sprozess] unterlag,
dieser [Jesus], der gestorben ist, dieser [Jesus], der das Kreuz erduldete, „wird so
kommen, wie ihr ihn habt in den Himmel aufsteigen sehen.“
Und wiederum [sagt] der
selige Paulus in der Apostelgeschichte: „In dem Mann“, sagt er, „durch welchen den
Erdkreis zu richten Gott beschlossen hat, hat er allen den Glauben dargereicht, indem
er ihn von den Toten auferweckte.“
Ist etwa das göttliche Wort von den Toten auf­
erstanden? Wenn aber der, der lebendig macht, zu Tode gebracht wurde, wie muss
dann der beschaffen sein, der [künftig] das Leben spendet?

Darüber hinaus wären wir nämlich auch den Arianern in folgender Hinsicht sehr
anfechtbar. Denn wenn wir [den], der wie auch immer geboren wurde, ganz einfach
auch als das göttliche Wort bezeichnen, siehe, was sich daraus ergeben kann. Du sagst
bedenkenlos: Es ist Gott, der von Maria geboren wurde. Sofort bringt ein Häretiker
tadelnd vor: Weil also, sagt er, bei euch auch dieses im Bekenntnis [enthalten] ist, dass
es das göttliche Wort ist, das von Maria geboren wurde, höre, was eben dieses göttliche
Wort selbst über sich bezeugt: „Wenn ihr zu meinen Brüdern geht, verkündet [ihnen]:
Ich gehe zu meinem Vater und eurem Vater, meinem Gott und eurem Gott.“
Aber
wenn du sagst, dass der von der seligen Maria Geborene so der Menschheit nach zwar
mit uns wesenseins war, darin aber, dass er mit Gott verbunden war, als Gott von weit
besserer Substanz war als wir, dann wirst du von deren Gotteslästerung befreit werden
und wirst das Geheimnis der Religion kurz und bündig auf diese Weise verkündigen:
Eines ist das göttliche Wort, das sich in dem Tempel befand, den der Geist geschaffen
hat, und ein anderes ist der Tempel ohne den [ihn] bewohnenden Gott. Es ist Wesens­
merkmal des Tempels, dem Tod zu unterliegen. Wesensmerkmal dessen, der den
Tempel bewohnt, aber ist es, diesen wieder zum Leben zu erwecken. Dies ist nicht
meine Rede, sondern ich verlese das Wort des Herrn: „Zerstört [S. 39:] diesen Tem­
pel“, sagt er, „und in drei Tagen werde ich ihn [wieder] aufrichten.“
 

Wir wollen also bekennen, dass die Würde der Verbindung 〈eine〉 ist, die Substanz
der Naturen aber zweifach. Andernfalls müsste man zu dem Schluss kommen, dass das
göttliche Wort eine Schöpfung des Heiligen Geistes ist. Denn was sagt der Evangelist
über den, der im Leib geschaffen wurde? „Was in ihr herangewachsen ist, das ist vom
Heiligen Geist.“
Wenn es nun einzig und allein das göttliche Wort war, das geboren
wurde, [und] der Evangelist sagt, dass der Geist jenen Tempel in der seligen Maria
geschaffen hat, [dann] wird sich auch das göttliche Wort als ein Werk des Heiligen
Geistes erweisen. Deshalb wollen wir diese 〈gottlose〉 Vermischung meiden 〈und be­
kennen〉, dass unser Herr Christus der Natur nach zweifach ist, gemäß [dem Um­
stand], dass er Sohn ist, [aber] einer.

Ich habe aber recht oft heiter [darüber] gelacht, als mir einige Leute auch jenes
berichteten, dass, [so] heißt es, der Bischof wie Photin denke, ‚wobei sie weder wis­
sen, was sie sagen, noch was sie behaupten‘.
Denn das, was ich sage, erweist sich als
eine Widerlegung der Lehre Photins. Die Lehre Photins gibt nämlich dem göttlichen
Wort von der Geburt durch Maria her einen Anfang. Da ich aber sage, dass das
göttliche Wort bereits vor den Zeiten existierte, sollte mir jedenfalls in Bezug auf jene
das Sprichwort genügen: „Antworte dem Unverständigen nicht gemäß seinem Un­
verstand.“
Ich will aber, dass ihr als einsichtsvolle Prüfer der Lehrsätze weder irgend­
wie vom Beifall, dem Anreiz für eine Rede, angezogen werdet,
noch dass ihr etwas an
den Lehrsätzen oder die geprüfte Argumentation für die Dreistigkeit einer Neuerung
haltet, sondern sie vielmehr als einen [Ausdruck] der ruhmreichen Wahrheit beurteilt.

Ende.


2–5 Dass … ist]

Nestorius lenkt hier geschickt die Zielrichtung des Beifalls, der Proklos nach seiner kurz zuvor gehaltenen Predigt (CV19, ACO I,1,1 S. 103,1–107,22 [Dok. 3]) von der Gemeinde zuteil wurde, weg von dessen Predigt auf Maria selbst und schafft so eine Ausgangsposition, in der er die Gemeinde vermeintlich auf seiner Seite hat und nun die Ansichten seines Gegners kritisieren und ablehnen kann.

5–6 Eure Liebens­würdigkeit]

D.h. Proklos.

9–11 damit … verwenden]

Dass diese Worte gegen Proklos zielen, betont bereits Bauer (1919), S. 29.

14–16 Wenn … Christen]

Vgl. Origines, Contra Celsum 7,68: Διὰ δὲ τὰ ἀνωτέρω περὶ τοῦ Ἰησοῦ ἡμῖν εἰρημένα οὐ χρὴ νῦν παλιλλογεῖν πρὸς τὸ Ὅτι μὲν οὖν αὐτοὶ διελέγχονται σαφῶς οὐ θεόν, ἀλλ᾽ οὐδὲ δαίμονα, ἀλλὰ νεκρὸν σέβοντες.“ Vgl. auch Julian, Contra Galilaeos 1, Frg. 48,5 (CI 6,31,9) Masaracchia (1990) u. Frg. 81,5 (CI 10,11,6f.) Masaracchia (1990).

28–29 vorangehende Lehrer]

D.h. Proklos.

29–32 der … wurde]

S. CV19,2,1 – 2, ACO I,1,1 S. 103,23f. (Dok. 3): [...] ἀλλ’ ἐγεννήθη ἐκ γυναικὸς θεὸς οὐ γυμνὸς καὶ ἄνθρωπος οὐ ψιλός [...] (vgl. auch CV19,9,2 – 3, ACO I,1,1 S. 107,5).

33–34 ihr‌² … seid]

D.h. die Zuhörer des Nestorius.

36–38 Ich … werden]

Zu Christus als Hohepriester vgl. Hebr 3,1: [...] considerate apostolum et pontificem con­fes­sio­nis nostrae Iesum. Die Äußerung des Nestorius ist ein Seitenhieb auf Proklos, der auf Hebr 3,1 verweist, um zu beweisen, dass Maria einen Gott geboren hat (CV19,6,15 – 16, ACO I,1,1 S. 105,21 [Dok. 3]).

39 Eurer Liebe]

D.h. Proklos.

49–52 Dieser … sehen]

Apg 1,11.

53–55 In … auferweckte]

Apg 17,31.

64–65 Wenn … Gott‌²]

Joh 20,17.

70 das‌¹ … befand]

Vgl. Joh 1,14: Et Verbum caro factum est et habitavit in nobis.

74–75 Herrn … aufrichten]

Joh 2,19; Mk 15,29; Mt 26,61.

79–80 Was … Geist]

Mt 1,20.

87 heißt es]

Übersetzt gemäß der Korrektur von Jean Garnier (PL 48, Sp. 785) inquiunt, vgl. hierzu Loofs, Nestoriana S. 341.

87 Photin]

Bischof von Sirmium (gest. 376), der eine adop­tia­nis­ti­sche Auffassung vertrat. Zu Photin vgl. Uthemann (31999).

87–88 wobei … behaupten]

Vgl. 1 Tim 1,7.

92–93 Antworte … Un­verstand]

Spr 26,4.

93–96 Ich … beurteilt]

Die Predigt endet ohne eigentlichen Schluss, was wiederholt zu der Auffassung geführt hat, Nestorius sei an dieser Stelle von seiner Gemeinde zugunsten des Proklos zum Abbrechen genötigt worden (auch Bauer [1919, S. 30f.], hält dies für durchaus möglich; in Anlehnung an Bauer etwa auch Holum [1982, S. 156] u. McGuckin [1994, S. 30]). Gegen diese Auffassung wendet sich zu Recht Bevan (2016, S. 104 Anm. 100). Seiner Ansicht nach lässt sich das Ende in der vorliegenden Form eher überlieferungsge­schichtlich erklären als durch Einschreiten der Zuhörer. Schon Loofs (Nestoriana S. 341) äußert sich dahingehend, dass er die letzten überlieferten Worte nicht für den tatsächlichen Schluss der Predigt halte. An anderer Stelle (S. 133) macht er als mögliche Gründe für die Kürze der Predigt den Um­stand geltend, dass sie unmittelbar nach einer anderen Predigt gehalten wurde – eine Auffassung, der sich Konoppa (2005, S. 247) anschließt –, und dass „bei dem Zustande der Texte des Marius Mercator niemand seine [sc. des Predigttextes] Integrität zuversichtlich behaupten“ könne. Berück­sichtigt man jedoch den Rückgriff des Nestorius auf das Motiv des Beifalls, mit dem er seine Predigt begonnen hatte: vos autem volo perspicaces examinatores dogmatum neque plausibus utcumque adtrahi sermonis inlecebra (ACO I,5 S. 39,15f.; vgl. auch Anm. zu CPal22,93 – 94), – hier gegen seinen Geg­ner gewendet –, ließe sich doch auch an einen bewusst dramatisch angelegten Schluss der Predigt denken, bei dem der Verweis auf die „ruhmreiche Wahrheit“ wie ein Paukenschlag einen effektvollen Abschluss darstellen würde. Das schließt freilich nicht gänzlich aus, dass Nestorius auch noch eine der üblichen Wendungen zum Abschluss der Predigt angeschlossen haben könnte, die dann aber von Marius Mercator weggelassen wurde, zumal dieser sich gerne auf das für seine Argumentation Wichtige beschränkt, vgl. etwa seine Äußerung am Ende von CPal31,115, ACO I,5 S. 62,19 (Dok. 13): [...] et reli­qua ad praesentem rem minime pertinentia.

93–94 dass … werdet]

Nestorius nimmt mit diesen Worten das Motiv des Beifalls vom Anfang der Predigt wieder auf, um Proklos indirekt beifall­hei­schendes Predigen zu unterstelle

Die Akten des Konzils von Ephesus 431. Übersetzung, Einleitung, Kommentar

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